
Wahrscheinlich ist schon Nacht, es ist dunkel. Es ist schon lange dunkel. Seit Wochen, vielleicht seit Jahren, ich weiß es nicht mehr. Seit Stunden fahre ich geradeaus. Ich bin ins Auto gestiegen und losgefahren. Was hätte ich tun sollen, es gibt keinen Ort, an dem ich bleiben will, keinen Ort, an dem ich Ruhe fände.
Ich hätte sie nicht schlagen sollen. Nicht dieses eine Mal. Ich habe sie doch geliebt. Ich habe sie so sehr geliebt, aber sie hat es nicht gewusst. Nicht, wie sehr ich sie liebte. Vielleicht hätte ich es ihr öfter sagen sollen, vielleicht hätte es auch gar keinen Unterschied gemacht. Wahrscheinlich hätte es ihr nicht geholfen. Nicht mehr. Was hätte ich denn tun sollen? Ich konnte ihr nicht helfen, niemals. Vom ersten Moment an wusste ich es, schon als ich sie das erste Mal so sah.
Ich hätte sie nicht schlagen sollen, sie war doch so schwach, so zerbrechlich. Ich habe sie zerbrochen. Nicht alleine, das Leben hat sie zerbrochen, ich habe nur mitgemacht. Ich konnte nichts anderes tun.
Dieser Wald kommt mir nicht bekannt vor. Ich weiß nicht einmal mehr, in welche Richtung ich gefahren bin. Ich kann mich nur erinnern, seit Stunden geradeaus zu fahren. Ich bin ins Auto gestiegen und… Ah, das sagte ich ja schon. Es ist so dunkel, so dunkel. Ich glaube, ich weiß nicht, wo ich bin. Nie hier gewesen. Ich kann nicht mal die Schilder lesen, so dunkel.
Als ich damals nach Hause kam, war es auch dunkel. Alles war wie immer, außer, dass es so dunkel war. Sonst, wenn ich nach Hause kam, war sie da, wartete auf mich. Meistens ging sie dann in der Küche und kochte. Sie wollte immer kochen, auch, wenn sie nicht wusste, wann ich nach Hause kommen würde. Sie bestand darauf, das gehöre sich so, sagte sie.
Diesmal war es anders. Sie war da, aber sie wartete nicht. Sie kochte auch nicht. Und es war dunkel, das ganze Haus. Kein einziges Licht. Und da war sie, saß auf der Couch, Kopf auf den Knien. Kein Wort, sie sah nicht einmal auf. Ich sagte auch nichts. Ich ging in die Pizzeria an der Ecke, aß dort. Sie saß noch so da, als ich zurückkam. Ich ging zu Bett. Was hätte ich tun sollen?
Am nächsten Morgen stand kein Frühstück auf dem Tisch. Sie lag auf der Couch, war dort eingeschlafen. Das Kissen war nass, sie hatte wohl geweint. Als ich zur Arbeit ging rief sie mir etwas nach, aber ich hörte es nicht, hatte keine Zeit. Ich musste ja zur Arbeit.
Wenn ich nur daran denke, ich musste zur Arbeit! Der Gedanke, ich müsste montags wieder dorthin, erscheint mir komisch. Alles ist so weit weg, das Haus, die Arbeit. Ich fahre immer weiter weg, weg von allem. Ich weiß nicht warum, ich muss ja sowieso wieder zurück. Muss schließlich montags in die Arbeit. Wenn es bloß nicht so dunkel wäre, vielleicht käme mir doch etwas bekannt vor. Aber was könnte mir denn bekannt vorkommen? Es ist ja nichts wie früher. Es ist ja nichts mehr wie früher. Ich glaube, ich habe mich schon lange verfahren. Vielleicht schon vor Jahren.
Ich kam von der Arbeit. Sie wartete. Aber sie kochte nicht. Sie wollte reden. Aber mit leerem Magen kann man nicht reden. Das sagte ich ihr. Ich fuhr zu einem Restaurant in der Stadt. Ich traf einen Kollegen dort, es wurde spät.
Als ich nach Hause kam, wartete sie immer noch. Sie wollte immer noch reden. Aber ich war so müde, so furchtbar müde. Das sagte ich ihr. Ich ging zu bett. Was hätte ich tun sollen?
Später kam sie auch ins Bett, aber ich schlief schon.
Es ging ein paar Tage so. Sie kochte nicht, also aß ich auswärts. Dann ging ich gleich zu Bett. Ich war so müde, so müde.
Als ich einmal wieder zur Arbeit gehen wollte, rief sie mir etwas nach. „Wir werden keine Kinder bekommen, Stan!“ Aber die Tür fiel schon ins Schloss. Ich hatte es heute besonders eilig, ich hatte keine Zeit zum reden.
Ich hatte auch keine Zeit zum Nachdenken, denn im Büro gab es heute besonders viel zu tun. So viele Dinge, die ich ewig aufgeschoben hatte, mussten endlich erledigt werden. Und warum nicht auch gleich den Monatsbericht schreiben, wenn man schon dabei ist? Und die Steuererklärung schreibt sich schließlich auch nicht von selbst. Ich kam erst spät nach Hause und war sehr müde.
Was ist das da vorne? Ich glaube, da kommt ein Schild. Hm, die Namen der Orte sagen mir nichts. Ich fahre einfach geradeaus. Nur geradeaus, dann kann ich mich nicht verfahren. Ich brauche nur umzudrehen und zurückzufahren. Wann immer ich es möchte, kann ich umdrehen und zurückfahren. Und wenn ich will, kann ich dann auch wieder wegfahren, in eine andere Richtung. Eine praktische Sache, so ein Auto. Sie hätte auch ein Auto haben sollen.
Irgendwann kochte sie dann wieder. Das beruhigte mich, denn immer auswärts essen, das ist auf Dauer nicht billig. Beim essen sagte sie es dann noch mal. „Stan, wir werden keine Kinder haben.“ Ich hörte, was sie sagte, aber was hätte ich tun sollen? Das fragte ich sie. Sie sagte nichts mehr. Deshalb aß ich weiter.
Sie sagte ziemlich lange nichts mehr, ein paar Tage.
Und dann, eines Tages, fingen dann die Probleme an. Ich kam wie immer von der Arbeit. Und da sah ich sie. Sie saß auf der Couch. Sie saß einfach nur da. Und vor ihr auf dem Tisch, da standen die Flaschen. Die Flaschen, die zuvor noch in der Bar gestanden hatten. Alle möglichen Flaschen waren das, Scotch, Brandy, auch ein guter Whiskey. Wir hatten diese Flaschen nie angerührt, sie dienten mehr als Dekoration, doch jetzt waren sie alle geöffnet. Mir gefiel das nicht. Ich wollte nicht, dass diese Flaschen geöffnet wurden, ich wollte nicht, dass sie nur so dasaß, sie sollte kochen. Auswärts essen, das ist auf Dauer nicht billig. Das sagte ich ihr. Sie stand auf. Aber weit kam sie nicht. Sie fiel einfach wieder um. Ich wollte nicht, dass sie umfiel. Ich wollte, dass sie aufstand. Das sagte ich ihr, aber sie stand nicht auf. Ich schubste sie mit dem Fuß an. Dann schubste ich fester. Sie stand nicht auf. Ich wollte sie nicht so da liegen lassen. Ich legte sie zurück auf die Couch. Dann ging ich zu Bett. Was hätte ich tun sollen?
Seit Stunden fahre ich jetzt geradeaus. Trotzdem habe ich ständig das Gefühl, nicht vorwärts zu kommen. Na was soll’s, genau genommen komme ich schon lange nicht mehr vorwärts, seit Wochen nicht. Da hilft auch das Auto nicht. Ah, was sehe ich? Ich fahre ja nicht mal. Deshalb komme ich nicht weiter. Das ist lustig. Wann bin ich denn stehen geblieben? Ach, ist ja auch egal, fahre ich eben ab jetzt doppelt so schnell, damit ich die Zeit aufhole, die ich vergeudet habe. Mit dem Auto geht das.
Immer öfter standen jetzt Flaschen auf dem Tisch. Irgendwann waren die alten leer. Das beruhigte mich, vielleicht würde sie jetzt wieder kochen. Aber bald waren neue Flachen da. Das gefiel mir nicht. Ich sagte ihr das, aber sie sah mich nur an. Sie sagte kein Wort, sah mich nur an, als erwarte sie etwas von mir. Mir gefiel nicht, wie sie mich ansah. Auch das sagte ich ihr, aber sie sah mich weiter an. Dann schlug ich sie. Was hätte ich denn tun sollen. Ich schlug sie mitten ins Gesicht. Sie sah mich noch immer so an. Ich schlug sie wieder und wieder. Ich wollte, dass sie aufhörte, mich so anzusehen, aber sie hörte nicht auf, sie sah mich an und da war etwas in ihren Augen, das mir weh tat. Ich konnte sie nicht mehr schlagen. Noch viel weniger als die ganze Flaschen, weniger als sie, wie sie nicht kochte, gefiel ich mir selbst, wie ich sie schlug. Ich stand ziemlich lange nur da, wir sahen uns an, kein Wort. Dann nahm ich sie in die Arme. Ganz vorsichtig war ich, sie sah so zerbrechlich aus, ich hatte Angst, sie würde zerfallen, wenn ich sie berührte. Sie weinte. Ich weinte auch, was hätte ich denn tun sollen. So standen wir lange, ich hielt sie in meinen Armen und wir weinten gemeinsam. Dann erzählte sie mir ganz ruhig, der Arzt hätte ihr gesagt, dass sie keine Kinder bekommen würde. Dass sie immer Kinder gewollt hatte, das sagte sie mir auch. Drei Kinder hatte sie sich gewünscht, zwei Buben, ein Mädchen. Ich hatte das nicht gewusst, aber selbst wenn, was hätte ich tun können? Sie wollte mir noch einiges mehr erzählen, aber ich war so müde von der Arbeit und dem Schlagen und dem Weinen und dem Zuhören. Ich war so furchtbar müde. Das sagte ich ihr. Ich küsste sie noch auf die feuchte Wange. Dann ging ich zu Bett.
Noch oft standen Flaschen auf dem Tisch, wenn ich kam. Flaschen kamen und gingen, bald schneller, als ich ins Restaurant und zurück fahren konnte. Und viel zu oft schlug ich sie deshalb und oft weinten wir zusammen. Und das alles machte mich so müde.
Ich ging jetzt viel eher zu Bett als früher, ich schlief länger. Im Büro war plötzlich viel mehr zu tun als früher. Es wurde oft spät. Und dann war ich müde.
Ich habe schon lange keine Ahnung mehr, wo ich bin. Immer stur geradeaus, ich hätte ab und zu anhalten sollen, mir Zeit nehmen, nach dem Weg fragen. Andererseits, nach welchem Weg hätte ich denn fragen sollen? Ich hatte doch nie ein Ziel. Nie. Immer nur geradeaus. Nicht stehen bleiben.
Irgendwann sagte sie mir, dass sie ihren Job verloren hatte. Ich konnte nichts für sie tun. Das sagte ich ihr.
Es wurde unser Alltag, die Flaschen, das Schlagen, das Weinen. Das war es, was ich jetzt erwartete, wenn ich nach Hause kam. Sie warte wieder auf mich. Sie saß auf der Couch, vor den leeren Flaschen und wartete. Wartete, dass ich sie schlüge, dass ich sie dann in die Arme nähme. Und dann weinten wir. So war es jetzt eben. Ich akzeptierte es. Was hätte ich tun sollen?
Also langsam freut es mich nicht mehr. Immer geradeaus, was soll den das, das bringt doch nichts. Man kommt ja doch nirgends hin und ich weiß ja sowieso schon lange nicht mehr, wo ich bin oder wo ich hin will. Weit werde ich wohl nicht mehr fahren.
Dass es so nicht lange gehen konnte, das wusste ich nicht. Aber sie wusste es. Und sie sagte es mir. Als ich nach Hause kam, stand sie da. Keine Flaschen auf dem Tisch und sie nicht auf der Couch. Sie wartete, aber nicht auf die Schläge. Nicht auf das in die Arme Nehmen. Sie stand nur da und sah mich an. Sie sah mich an, wie sie mich damals angesehen hatte, als die Probleme begonnen hatten. Es gefiel mir nicht, wie sie mich ansah. Das sagte ich ihr. Das war ihr egal. Sagte sie. Sie sagte auch noch viele andere Dinge. Sie hatte Pläne gehabt für ihr Leben. Sie hatte eine Familie haben wollen. Sie hatte eine gute Mutter und Ehefrau sein wollen. Sie hatte sich vorgenommen, immer für ihre Familie zu sorgen. Das gehörte sich so. So viele wunderschöne Pläne hatte sie gehabt. Ein größeres Haus hatte sie auch haben wollen. Viel Geld verdienen, für ihre Kinder, für ihre Enkel. Sie hatte von vielen schönen Dingen geträumt, früher. Das alles sagte sie mir. Ich konnte ihr nicht helfen. Das sagte ich ihr.
Sie sah mich wieder an. Aber anders. Ihr Blick war vollkommen leer. Das beruhigte mich etwas, denn sie schien jetzt nichts mehr von mir zu erwarten. Dann ging ich zu Bett. Was hätte ich tun sollen?
Was ist das? Ein anderes Auto hinter mir. Sowas, seit Stunden fahre ich jetzt geradeaus, aber das ist das erste andere Auto, das ich sehe. Ich kenne den Mann am Steuer. Es ist mein Chef. Er will mich wohl in die Arbeit holen. Bin ich so lange gefahren, ist schon Montag? Ach, Unsinn, ich sehe Gespenster, es ist gar nicht mein Chef, ich kenne diesen Mann nicht. Ich habe mich wohl geirrt, weil es so dunkel ist. Wenn es dunkel ist, kann es schon leicht sein, das man sich mal irrt, vielleicht auch, dass man falsch abbiegt. Deshalb fahre ich ja immer geradeaus. Aber wenn es jetzt doch mein Chef war? Wenn er mich nun mitten in der Nacht hier draußen sieht, was wird er sich da denken? „Fährt hier mitten in der Nacht stundenlang geradeaus und weiß nicht einmal, wo er ist“, wird er denken. Ich fahre zur Sicherheit noch etwas schneller.
In den nächsten Tagen sagte sie viel. Sie wiederholte sich oft, sagte dieselben Dinge mal ruhig, mal schrie sie mir bis auf die Straße nach. Ich mochte nicht, dass sie so viel sagte. Ich hörte sie auch meistens gar nicht, ich hatte keine Zeit, zuzuhören. Irgendwann fühlte ich mich dann doch so gar nicht mehr wohl, weil alles plötzlich so anders war, als sonst. Weil nichts mehr war, wie es sein sollte. Dann dachte ich mir, wenn ich sie wieder schlüge, vielleicht würde sie dann wieder still sein, nur warten, dass ich sie in die Arme nahm. Dann könnten wir wieder zusammen weinen und es wäre wieder wie es sein sollte. Also schlug ich sie. Aber sie wartete nicht, in die Arme genommen zu werden. Sie schrie mich an. Sie schrie mir alles Mögliche ins Gesicht, ich war aber viel zu müde, um ihr zuzuhören. Ich war ja immer müde. Und sie redete so viel in letzter Zeit. Es mochte ja sein, dass sie sich ihr Leben anders vorgestellt hatte, aber ich konnte ihr nicht helfen. Es gefiel mir nicht, dass sie von mir erwartete, dass ich ihr helfen könnte. Es gefiel mir nicht, dass mein Leben sich plötzlich so verändert hatte. Das sagte ich ihr. Dann war sie still. Sie griff in ihre Tasche. Ein kleines Fläschchen hatte sie da. Es beruhigte mich etwas, vielleicht würde jetzt wieder alles wie vorher werden. Aber dann erkannte ich, was in der Flasche war. Ich wollte nicht, dass sie es trank. Das sagte ich ihr. Sie sah mich nur an. Mit diesem Blick, als ob sie etwas von mir erwarte. Ich wollte nicht, dass sie mich so ansah. Das sagte ich ihr. Sie sah mich nur weiter an. Ich wollte das nicht. Ich wollte, dass sie aufhörte, mich so anzusehen. Aber ich hätte sie nicht schlagen sollen, nicht dieses eine Mal. Sie trank das Fläschchen bis auf den letzten Tropfen aus. Es dauerte, bis es wirkte. Es dauerte unendlich lange. Und die ganze Zeit sah sie mich an. Ich sah sie auch an. Was hätte ich tun sollen? Und irgendwann fiel sie dann einfach um. Sie lag nur noch da. Ich wollte nicht, dass sie so dalag. Aber das konnte ich ihr jetzt nicht mehr sagen. Ich wollte sie nicht so liegen lassen. Ich legte sie auf die Couch.
Es ist seltsam. Ich kann diese Kurve vor mir sehen, die immer näher kommt, aber ich lenke nicht. Das ist lustig. Ich weiß, dass ich lenken muss, aber nichts passiert. Und selbst lenken, das kann selbst ein Auto nicht.